Montag, 2. Januar 2006

Nu

Es war und blieb das Ungeborensein. Die kollektiven Lügen machen dich krank, die kollektiven Wahrheiten einsam. Da ist kein Atem, in den du dich flüchten könntest; DU bist der Wind, umhergetrieben, heimat- und wurzellos. Alles, was du berührst, alles, was du küsst, erblüht in vollem Leben, im Land der Herrlichkeit wacht es auf an deinem nährenden Busen.
Du aber, du hast nur Tod als Ernte. Gott hat dich verlassen.

Da lächelte es.
Genau dort im Ungeborenen, im Wald, inmitten der Wölfe, lächelte es sich.
An der Brust der Ewigkeit, jede Galaxie nur Milch aus Ihren Brustwarzen.
Dort lächelte es sich: Gott wurde erwachsen.

Ein Ende der Worte. Ein Ende. End. Lich. T.



Tee mit Choronzon

Sonntag, 1. Januar 2006

Gisors

"Schenkt man den „Prieuré-Dokumenten“ Glauben, dann war das Jahr 1188 sowohl für den Ordre de Sion als auch für die Tempelritter von grundlegender Bedeutung. Ein Jahr zuvor hatten die Sarazenen Jerusalem zurückerobert – nicht zuletzt aufgrund der kurzsichtigen Handlungsweise des Großmeisters des Templerordens, Gerhard von Ridefort. Der Text der Dossiers secrets geht allerdings schärfer mit ihm ins Gericht. Hier ist nicht von Unbeherrschtheit oder Unvernunft die Rede, sondern von seinem „Verrat“. Worin dieser Verrat bestanden haben soll, wird nicht gesagt. Der Fall Jerusalems dürfte aber auch das Schicksal der Abtei auf dem Zionsberg besiegelt haben. Es wäre nicht weiter verwunderlich, hätten die Ordensbrüder, ihres Wirkungsbereichs im Heiligen Land beraubt, Zuflucht in Frankreich gesucht, wo eine neue Heimstätte schon bereitstand.

Die Ereignisse des Jahres 1187 scheinen die beiden Orden nachhaltig einander entfremdet zu haben. Die Ursachen dafür sind nicht ganz klar. 1188 kam es jedoch, den Dossiers secrets zufolge, zu einem entscheidenden Wendepunkt in den Geschicken der beiden Orden, und eine formelle Trennung wurde vollzogen. Der Ordre de Sion wollte mit seinen berühmten Schützlingen nichts mehr zu tun haben. Die Erinnerung an diesen Bruch soll durch ein Ritual, eine Art Zeremonie, wachgehalten worden sein. In den Dossiers secrets und anderen „Prieuré-Dokumenten“ wird von der „Fällung der Ulme“ gesprochen, die in Gisors stattgefunden haben soll.

Die Berichte sind verzerrender und entstellender Natur, aber sowohl die Geschichtsforschung als auch die Überlieferung bestätigen, dass sich 1188 in Gisors etwas äußerst Seltsames ereignete, wozu auch die Fällung einer Ulme gehörte. An die Burg grenzte eine Rasenfläche, das champ sacré (heiliges Feld). Mittelalterlichen Chroniken ist zu entnehmen, dass dieser Ort schon in vorchristlichen Zeiten für heilig gehalten wurde. Im zwölften Jahrhundert hatten hier zahlreiche Begegnungen zwischen den englischen und französischen Königen stattgefunden. In der Mitte des heiligen Feldes stand eine uralte Ulme, die 1188, im Verlauf eines Treffens zwischen Heinrich II. von England und Philipp II. von Frankreich, aus unbekannten Gründen in den Mittelpunkt einer blutigen Auseinandersetzung geriet.

Einem Bericht zufolge gab es auf dieser Rasenfläche außer der Ulme nichts, was Schatten gespendet hätte. Angeblich war sie über 800 Jahre alt und so dick, dass neun Männer kaum den Stamm umfassen konnten. Im Schatten dieses Baumes ließ sich Heinrich II. mit seinem Gefolge nieder, so dass der etwas später eintreffende französische Monarch in der prallen Sonne stehen bleiben musste. Am dritten Verhandlungstag waren die Franzosen infolge der Hitze dermaßen überreizt, dass beleidigende Worte fielen, die mit einem Pfeil beantwortet wurden, der von einem von Heinrichs walisischen Söldnern abgeschossen worden war. Das hatte einen groß angelegten Angriff der Franzosen zur Folge, die den Engländern zahlenmäßig weit überlegen waren. Letztere suchten Zuflucht in den Mauern von Gisors, während die wütenden Franzosen zur Vergeltung angeblich den Baum fällten. Höchst aufgebracht reiste Philipp II. nach Paris zurück und erklärte, er sei nicht nach Gisors gekommen, um dort den Holzfäller zu spielen.

Die Geschichte zeichnet sich durch typisch mittelalterliche Schlichtheit und Wunderlichkeit aus. Sie begnügt sich mit einer oberflächlichen Erzählung, während sie zwischen den Zeilen ein Geschehnis von viel größerer Tragweite andeutet. Jedwede Erklärung fehlt. Man könnte die ganze Geschichte als absurde Legende abtun, würde sie nicht, zumindest im Großen und Ganzen, durch andere Berichte bestätigt werden.

Einer anderen Chronik zufolge soll der französische König Heinrich II. von seiner Absicht unterrichtet haben, den Baum zu fällen. Daraufhin habe Heinrich den Stamm der Ulme mit Eisenbändern verstärken lassen. Tags darauf formierten sich die bewaffneten Franzosen zu einer Phalanx aus fünf Schwadronen. Verstärkt wurden sie von Schleuderern sowie mit Äxten und Hämmern bewehrten Zimmerleuten, und allesamt rückten sie auf die Ulme vor. Ein wilder Kampf soll entbrannt sein, an dem auch Richard Löwenherz, Heinrichs ältester Sohn und Erbe, teilnahm, der versuchte, den Baum zu schützen, und dabei viel Blut vergoss. Als der Tag sich neigte, hatten die Franzosen den Sieg errungen, und der Baum wurde gefällt. Dieser zweite Bericht lässt auf mehr als nur ein unbedeutendes kleines Scharmützel schließen. Doch keiner von Richard Löwenherz´ Biographen schenkte diesem Ereignis besondere Aufmerksamkeit.

Abermals wurden die Angaben in den "Prieuré-Dokumenten" sowohl durch historische Ereignisse als auch durch Überlieferung bestätigt. Zumindest insoweit, als 1188 in Gisors tatsächlich eine sonderbare Auseinandersetzung stattfand, in deren Verlauf eine Ulme gefällt wurde. Von dritter Seite ist dieser Vorfall weder mit den Tempelrittern noch mit dem Ordre de Sion in Verbindung gebracht worden. Doch es wäre gut denkbar, dass Templer in ihn verwickelt waren, da Richard I. häufig in ihrer Begleitung auftauchte.

Es ist also durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass es mit dem Fällen der Ulme mehr – oder auch etwas anderes – auf sich hatte, als die für die Nachwelt bestimmten Berichte ahnen lassen".


[Lincoln, Baigent, Leight: "Der Heilige Gral und seine Erben"]


Ulmenjahr


Gisors

Samstag, 31. Dezember 2005

Pakt

Wenn dem aber so war, dann war alles sinnlos, jede Bemühung war zum Scheitern verurteilt und nichts würde von ihr bleiben als ein Schatten, ein Schemen und Staub. Dann war die Hoffnung tot, ja, hatte niemals existiert, sondern war nur eine Illusion, ein Traum, ein Possenspiel, das Zufall und Zukunft vorgaukelte, während alles schon festgelegt war, jede Weiche schon gestellt, jedes Wort schon gesprochen, jede Handlung schon getan.
Die Schwere rückte näher und setzte sich langsam, behäbig, schlug den dunklen Mantel des Schweigens um sich, der nie durchbrochen worden war. Ysaj fühlte, wie sich das Leben rot und blasphemisch in ihr aufbäumte, sie fühlte die Raserei der Mänaden unmittelbar in ihren Händen, das Schweigen schien ihr ohrenbetäubend und in der Dunkelheit saß Gott, abgewandt und schlafend. Sie musste herausfinden, ob es überhaupt einen Sinn hatte oder ob ihr Kampf jetzt schon verloren war; ob Jolanda ein Bauernopfer in einem uralten Spiel war, dessen Ausgang schon feststand oder ob ihr Schaffen einem Zweck diente, der jenseits der Finsternis lag. Sie musste es einfach wissen. Ysaj streckte ihre Hand in die Dunkelheit und weckte Gott, um ihn herauszufordern, hier unter der Ulme auf heiligem Boden.


Ulmenjahr

Mittwoch, 28. Dezember 2005

Weiß

Er: danke hatte weihnachten wenigstens etwas für Sie froh lockendes?
Sie: Etwas Frohes, etwas Lockendes und die Schwere des Winters in Weiß


Rubrik: Chatlogs

Muscheln

Die Strände der Kindheit entlanglaufen in von den Wellen längst verwischten Spuren. Du weißt nicht, was sich verändert hat, der Strand oder der Fuß, das Land oder Du. Nur das Meer; keine Welle wie die andere, jede einzigartig und jede neu; und doch ist nur das Meer ewig in seiner Wandelbarkeit, in seinem Vor und Zurück der Gezeiten, dem unendlich langsamen Herzschlag Gaias.
Du setzt Dich nieder wie bei einem lang vermißten Freund und erzählst. Die Geschichten des Landes und die Geschichten Deiner Füsse; wohin sie Dich trugen von hier, wie sie Dich immer zurücktragen an diese Stelle an der Du Dich niederkauerst, auf die Wellen blickst und Geschichten erzählst stundenlang in die smaragdgrünen Ohren der Tiefe. Bis Dir einfällt, Du könntest dem Meer keine neuen Geschichten erzählen, das Meer kennt alle Geschichten, auch die noch ungeschriebenen, weil die Geschichten, ebenso wie das Leben, aus dem Wasser kamen. Sie krochen an Land hinter den Lurchen und den Lungenfischen und krabbelten über die Schuppen der Reptilien. Sie saßen im Kiefer des Krokodilgottes und wurden mit dem Nil zurück ins Meer gespült. Die Geschichten bauten die Tempel und die Paläste, sie bauten Kulturen und nahmen sie wieder mit an den Grund des Meeres. Es gibt keine Geschichte, die das Wasser nicht kennt. Jedes Mal, wenn Du hier sitzt, wird Dir das von Neuem klar. Dann lächelst Du, gräbst mit den Füßen im Kies und öffnest die Ohren, die nur Muscheln sind, fällt Dir ein.



Arbeitsnotate

Ulmenjahr

Samstag, 17. Dezember 2005

Empfehlung II

Chiffre: Morgaine in Blogland

[Nutzen Sie dort den Link zum online-Hören des Hörspiels]

Freitag, 16. Dezember 2005

Empfehlung

pony.exe

Dank.

Im Atem der bevorstehenden Sonnenwende danke ich ganz besonders neo-bazi und Markus A. Hediger - beiden für das Herz des Löwen.
Innig.
Und inniger.
Dem Master of Desaster danke ich ebenfalls. Für die Versuche. Feinheit in Entäußerung. Ich danke ferner parallaie für die verzauberten Gedichte, in die ich mich verlieben könnte, wann immer ich sie lese. Welch ein Reichtum.
Und ich danke Achim, der das Herz des Löwen für eine Selbstverständlichkeit hält.
Und meinem Freund Roul, dessen Kuss immer die Hoffnung schützt.

Eine gesegnete Wintersonnenwende allen, die s i n d.

Herzlich,
TheSource


scarab
Sol Invictus

Shiva

In jedem Augenblick
so hinfort, so Sein.
Als wenn das Harren wüsste
vom Feuer. So will ich Dich
berühren, will Dich anbeten
oh Du Gott, Du Flamme.
Was dichte ich noch an der Schwelle
mit versagenden Worten
mit verzagtem Gemüt
oder doch nur: Hinabgeworfen
in diese Hitze, in diesen Blick.
Hier, in Deinen Unmöglichkeiten
in Deinen zarten Welten
in jeder Sekunde zeugst Du in mir
verweilst
spendest
Ungesagtes.
Wohin noch könnte ich die Stimme heben
wenn ich an Dich denke, Du blonder Gott.
Ich dachte, die Götter zu kennen.
Bis Deine Zunge
glitt
mir die Seele kehrte
in alle Zeit und
jeden Raum
die Gänze, die sie sang...
und wenn ich sprechen müsste
und sagen, was geschah
fände ich kein Wort für diese Süsse
keinen Hauch
nicht einmal einen Buchstaben
nur eine Woge Unsägliches,
Märchenhaftes,
in einer Sprache, die längst vergessen
an einem Ort, an dem Du mich erschaffst
heim bringst
zu Dir
Ich Weib unter Deinem Finger
ich Atem
und Wind
und
Du
.


[Für Achim]

Poems


shiva

Dienstag, 13. Dezember 2005

Indra

Inmitten des Sturmes
hauchte mir der Wind einen Kuss ein
salzig, berauschend, kündend
von einer Wiege aus inneren
Kinderstuben, raunte von vergessenen Orten
die ich herumtrage mit mir.
Der Strum hob mich auf
legte mich in sein stilles Auge
und ließ mich ruhen, eine Weile nur,
bevor er mich hinausschleuderte
in die Welt, auf den Boden der Dinge,
die ich Tatsachen nannte.
Die Erde raunte und das Wasser raunte
und ich raunte mit ihnen diese eine Liebe,
die mich treibt, zu tun
und zu lassen und zu kämpfen
und zu lächeln; die mich treibt,
zu denken und zu atmen,
zu schreiben und nicht
aufzuhören - und zu weinen.

Da lachte ich. Mitten im Aufprall.
Lachte laut.
Und nicht der Wind fiel in mein
Gelächter ein, nein.
Ich fiel in seines.


[Inspiriert via guanako.
Foto: Screenshot aus dem kroatischen Kurzfilm "Bura"(2004/2005), Regie: Petra Ključarić ]


Stigmata
BURA

Montag, 12. Dezember 2005

Lange, graue Wege.

Ihre erste Begegnung mit dem alten Blut hatte Ysaj schon in Kindesjahren und diese Begegnung war ein Ahnen nur, ein Schatten, der nie verblassen sollte und sich über ihr Dasein legte wie feiner Nebel. Ohne es zu wissen, trieb ihr Leben unausweichlich auf die Entfaltung dieses Blutes hin; sie war unglücklich, wenn die Umstände diese innere Programmierung unterdrückten und das Schicksal fand immer einen Weg, sie auf die Bahn zu bringen. Eine Bahn, die Ysaj Staunen abrang, Unverständnis, Wut - und sehr viel später erst Freude.
Der Himmel sandte ihr eine Botschaft, als Ysaj 19 war.
Erst nach Jahren sollte Ysaj die Parabel darin erkennen, fast eine Anleitung für ihr späteres Leben, die sie für lange Zeit nicht einfach vergaß, aber nicht lesen, nicht "übersetzen" konnte. Es ist nicht die Art des Himmels, sich zu wiederholen. Er spricht nur einmal und dann wartet er, bis das Gesagte verstanden wurde, dauerte dies auch Leben auf Leben und noch ein Leben. Dann spricht er wieder.

Nach dem Abitur hatte Ysaj, wie Manche ihrer Generation, einige Zeit in Asien verbracht. Man trekkte. So nannte sich das Wandern und Herumlaufen auf dem großen Kontinent, das Eintauchen und zeitweilige Einswerden mit fremden Gerüchen, Sitten, Eßgewohnheiten, Kulturen, Gewürzen. Ab und an kaufte man von dieser Exotik, trug es zur Post und schickte es an die Heimatadresse, wo es von Freunden bis zur Rückkehr gehortet wurde. Anderes kaufte man, weil es sich auf dem Weg als nützlich erwies und so schleppte Ysaj nach einigen Monaten ein nicht unbeträchtliches Gepäck mit sich herum, das sie nicht gedachte, im Himalaya alleine zu tragen. Also kaufte Ysaj einen Esel, dies war in Nepal, ein jämmerliches, mageres Tier, das sie drei Wochen aufpeppelte, da sie befürchtete, er könnte sonst nicht bis Darjeeling durchhalten. Sie bürstete ihn und ließ ihn weiden, wofür sie einen der ansässigen Bauern bezahlte. Kaufte Getreide und fütterte dies zu, stellte ihn warm unter. Der Esel, solch gute Behandlung nicht gewöhnt, war glücklich und wich nicht von ihrer Seite, sobald sie auftauchte.

Als sie den Esel am Abreisetag belud, erschien er ihr immer noch mager, aber kräftig genug für den größten Teil des Gepäcks. Den Rest schulterte sie und war froh über die Leichtigkeit des Rucksacks, der zuvor beträchtlich mehr wog. Ein früher Frühling war ins Land gezogen mit den frischen und morgens noch kalten Winden der Gebirgswelt und Ysaj hatte diesen Wink des Himmels, wie es ihr schien, begrüsst. Sie hatte Zeit aufzuholen, Bekannte warteten in Darjeeling und sie war ohnehin spät dran, hatte sich zu lange in Nepal aufgehalten und jetzt drängte die Zeit. Mit dem Esel würde sie zudem schnell vorankommen, was er auf dem Weg nicht an kräftigem Futter fände, band sie ihm auf den Rücken. Fünf bis sechs Tage, das war zu schaffen. Sie verabschiedete sich von ihrer Gastfamilie mit kleinen Geschenken, bekam Amulette und bunte Tücher und zog nach einem letzten gemeinsamen Essen los.

Das Wetter war wunderbar und die ersten Tage kamen sie gut voran. In den kalten Nächten erwies sich der Esel als so klug, sich für einige Stunden mit ihr ans Feuer zu legen, was zusätzlich wärmte. Tagsüber trieb sie ihn nicht allzusehr zur Eile an, die aufblühende Gebirgswelt war so schön, dass sie hier und dort stehenblieb um die grandiosen Panoramen zu bewundern oder einfach nur eine frisch erblühte Blume zu betrachten, deren Namen sie nicht kannte. Am zweiten Tag hatten sie eine Gruppe Inder getroffen, die Räucherwerk und Tee nach Katmandu transportierten, die Rücken ihrer Lasttiere waren so durchgebogen, dass es Ysaj einen Stich gab. Aber sie sagte nichts, ließ sie sogar lachen über den Rucksack auf ihrem Rücken, trank Tee mit ihnen und holte Auskünfte über den Weg ein. Der Paß sei frei seit über einer Woche und man käme schnell voran erfuhr sie bei der zweiten Tasse Caj. Auch gäbe es einen neuen Unterstand, in dem sich gut übernachten ließe auf dem Pass, Lee - meistens jedenfalls, die Winde kamen ja hier sowieso wie sie wollten. Mit etwas Glück könnten sie in einer Woche die nächsten Waren befördern. Als Ysaj sich später auf den Weg machte, winkten sie ihr nach, bald darauf nahm eine Felswand ihr den Blick und sie hörte nur noch ihre Tshi-Tsha-Rufe, mit denen sie die Tiere antrieben.
Am Abend holte sie die gefütterte Kleidung aus dem Gepäck, gab dem Esel Getreide und redete ihm gut zu. "Morgen kommt der schwerste Abschnitt und vielleicht auch noch übermorgen, wenn wir trödeln. Aber dafür sind wir zwei dann so hoch über dem Meeresspiegel, wie wir es nie waren". Der Esel blickte sie kurz an und fraß dann weiter. "Naja, ich jedenfalls nicht", lachte sie. "Wer weiß, wo Du schon überall warst". Kraulte ihn hinter dem Ohr und schlief kurz darauf ein.
Der nächste Morgen brach klar und sonnig an, auch wenn sie von der Sonne nicht viel hatten, da einer der großen Berge seinen Schatten warf. Es gab keinen Frühnebel, was sie als gutes Zeichen wertete, vielleicht waren sie aber auch einfach nur zu hoch. Ysaj trank ihren Tee und studierte die Karte. Wenn sie sich etwas beeilte, schaffte sie es am Abend bis auf den Pass und konnte den Abstieg gleich morgen beginnen, also fiel das Frühstück kurz aus und sie trieb den Esel an.
Aber am Scheideweg zum Pass fiel dem Himmel dann ein, zu ihr zu sprechen. Der Esel war vorgelaufen und bog links auf den Weg, der ins Tal hinabstieg, so dass sie rennen musste, ihn einzuholen. Sie packte die provisorischen Seilzügel und bekam den Esel nicht vom Fleck. Das sture Tier weigerte sich, den rechten Weg zu nehmen, sondern wollte auf den linken, der weitaus länger war und sie noch weitere neun Tage bis Darjeeling kosten würde. Über den Pass waren es drei. Sie zog und zerrte, der Esel schrie leise. Dann sprach sie auf ihn ein, kraulte ihn, versuchte, ihn mit seinem Kraftfutter zu locken. Nichts. Er rührte sich nicht vom Fleck, bockte wider seine sonstige Art und war halt stur wie ein Esel. Ysaj, wütend und von der Anstrengung, einen festgewachsenen Esel bewegen zu wollen, erschöpft, ließ sich auf einen großen Stein nieder und rauchte eine Nelkenzigarette. Dabei schimpfte sie auf den Esel ein. Du dummes Tier! So ein langer Weg. Sie warten auf mich drüben. In einem fort.

Aber es war entschieden. Ysaj, nicht fähig, das Tier zu schlagen und es auf den Pass zu prügeln, nahm den Weg durchs Tal. Streckte den Proviant und zog das Tempo an. Der Esel trottete brav mit, siegessicher. Er hatte den Zweikampf gewonnen und das wurmte sie. Als sie am vorletzten Tag an die Stelle kamen, an der die zwei Wege wieder zusammenführten, meinte sie, in dem I-A des Esels einen Trimphschrei zu hören. Ja, er hatte gut lachen. Für ihn hatte sie genug Futter mit.

Als sie am nächsten Mittag in Darjeeling ankamen, lief ihr eine aufgebrachte Schar Dorfbewohner über etwa einen Kilometer entgegen. In dem heillosen Durcheinander an Zurufen erkannte sie einige englische Worte und wandte sich dem aufgeregt gestikulierenden Mann zu. Ob sie vom Pass käme. Nein, sie wäre durch das Tal gegangen. Der Mann übersetzte. Wieder ein aufgeregtes Durcheinanderrufen. Sie war müde, hungrig und erschöpft und wollte nichs weiter als eine warme Mahlzeit und ihre Ruhe. Doch die Leute ließen sie nicht durch, löcherten sie mit Fragen, ob und wen sie getroffen hätte. Sie berichtete von der Gruppe Inder. Wann? Vor etwa zehn Tagen, antwortete sie. Der Tumult wurde noch lauter, Hände streckten sich ihr entgegen, eine Frau brach weinend zusammen und wurde von anderen Frauen auf die Füße gezogen. Andere Leute begannen ebenfalls, zu lamentieren, während wieder andere auf sie einriefen. Der Inder schrie auf Englisch, damit sie ihn überhaupt hören konnte. Ein Blizzard. Vor neun Tagen. Oben auf dem Pass. Gefährlich grad im Frühling. Seitdem immer wieder Stürme dort oben. Mindestens sieben Leute erfroren. Einer nur konnte sich retten und kam vor Tagen schon. Der Pass nicht begehbar. Sie könnten niemanden hochschicken, um nachzusehen. Blizzard. Erfroren. Blizzard.

Der Himmel hatte gesprochen. Nicht jetzt, aber es durchfuhr sie auf indischem Boden wie ein Blitz und erst im Donner öffnen sich die Ohren. Einige Minuten stand sie, stand einfach nur und starrte. Dann, inmitten des Pulks, setzte Ysaj sich auf ihren Rucksack. Nahm die weiche Nase des Esels zwischen ihre Hände. Und küsste sie.


dhaulagiri_ta karavane


Ulmenjahr


Esel

Samstag, 10. Dezember 2005

Die Wahrheit und das Wahre VIII

Die besten Päpste waren Atheisten.

[Aleister Crowley]


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