Freitag, 9. Dezember 2005

Schnaubende Züge. Plastisch.

Teresa

Donnerstag, 8. Dezember 2005

Des Pudels Kern

Pinters Nobelpreisrede.
Lesen Sie sie. Und freuen Sie sich mit mir.

Pan

Nichts ist mir heilig.
Ich heilige alle Dinge.

Dienstag, 6. Dezember 2005

Äpfel

"Erzähl mir von Jolanda".

"Jolanda....". Maria rührte in ihrer Teetasse, es war altes Porzellan und eine gute Qualität, trotzdem waren die ehemals leuchtenden Blumen verblichen. Die Frauen sagten, das wäre in der Zeit passiert, als es kein Spülmittel gab und sie das Geschirr mit Waschpulver abwuschen. Später gab es dann kein Waschpulver und sie wuschen die Wäsche mit Kernseife. Das war in den frühen Achzigern, als Kaffee und Zigaretten eine seltsame Währung wurden, als es einen grauen Markt gab und ständig jemand nach Italien, Österreich oder Deutschland fuhr und mit einen Kofferraum voll Waschpulver oder Speiseöl zurückkam oder anderen Dingen, an denen es grade mangelte.

"Jolanda war immer anders", seufzte Maria. "Das sah man schon an den Augen. Sie hatte als Einzige von uns allen grüne Augen. Wir Anderen hatten die blauen Augen der Eltern oder braune, die von unserer Großmutter. Du weißt ja, braun ist dominant auch in späteren Generationen". Sie reichte Ysaj den Teller mit Gebäck und Ysaj nahm ein Stück Orahnjaca, der Kuchen war noch lauwarm. Maria goß Tee nach, und immer, wenn es ruhig war in diesen Räumen, rückte die Zeit an einen heran wie ein Raubtier auf der Pirsch. Das lag daran, dass es nie wirklich still war. Maria besaß eine Uhrensammlung; niemand wußte, wie viele Uhren es genau waren, die überall herumstanden oder an den Wänden hingen. Große, aufziehbare Uhrwerke, Standuhren, kleine, batteriebetriebene Wecker, aufziehbare Wecker, Uhren mit Digitalanzeige, kleine Standuhren, Uhren aus England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz; russische Uhren und ungarische, bulgarische Uhren, Uhren aus der Heimat, Uhren aus Griechenland, Taschenuhren aus England und den USA, niemand konnte es aufzählen. Uhren aus so vielen Ländern und Uhren aus jeder Zeit. Sie hatte eine Kukucksuhr, die war so alt, dass sie noch ein Holzuhrwerk hatte. Marias ganzer Stolz. Nur Armbanduhren mochte sie nicht. Nie sah man sie eine Uhr tragen.

Wenn Maria sagte, es sei still, meinte sie, dass niemand sprach. Denn in allen Räumen tickte und tackte es durcheinander. Es gab keinen Einklang im Geräusch der Uhren. Manche Uhren meldeten lautstark nur die volle Stunde, andere wiederum meldeten die Viertelstunden: Ein Schlag für eine Viertelstunde, zwei für halb, drei für eine Dreiviertelstunde, vier für eine volle - und dann wechselten sie die Tonlage und schlugen die Anzahl der Stunden. Zwei Uhren spielten dazu noch große Vorbilder nach: Big Ben und die Kathedrale von Zagreb, so dass die vollen Stunden zu einem schrägen Konzert wurden, das durch die Räume hallte. Maria konnte es nicht leiden, wenn die Uhren nicht gleichzeitig die Stunden schlugen, auch wenn es nichts ausgemacht hätte, denn die Melodien begannen ohnehin bei jeder Uhr anders. Jeden Tag kontrollierte sie die Uhren, zog sie auf, stellte sie nach der neuen Atomuhr. "Man glaubt es nicht", sagte sie immer, "die alten Uhren gehen viel genauer als der spätere mechanische Kram, wenn man sie zu pflegen weiß". Dabei blickte sie verzückt auf die alte Kukucksuhr mit ihren als Eichenzapfen geformten Gewichten an ihrem Ehrenplatz in der Stube. "Die Deutschen", seufzte sie dann, "die Deutschen und die Schweizer, die konnten Uhren machen!"

Ysaj kaute den köstlichen Kuchen und versuchte, nicht auf die überall um sie herum gezählte Zeit zu achten. Tick-tack. Tack-tick. Ticketack-tack.
"Ich glaube, wir hatten Angst vor Jolanda", meinte Maria, ebenfalls kauend.
"Nicht direkt. Nicht, dass wir es gewusst oder zugegeben hätten. Aber sie war so anders".
"Inwiefern anders"?
"Ein wenig verrückt. Auf eine ganz seltsame Weise. Beunruhigend".
Maria fixierte die alte Uhr, ihr Lieblingsstück, stand dann auf und verschwand in der Küche. Man hörte sie eingie Schubladen aufziehen, dann das "Klick" des Anzünders für den Gasherd. Mit einem weichen Lappen in der Hand kehrte sie zurück und wischte etwas Unsichtbares von den Gewichten der Uhr.

"Maria?"
"Hmh?"
"Was meinst Du mit sie war ein wenig anders? Was war beunruhigend?"
"Ah, ja". Während sie in den Sessel sank, legte Maria den Lappen auf die Lehne und nahm noch ein Stück Kuchen.
"Das zeigte sich an ganz alltäglichen Situationen, Ysaj. Situationen, die auf einmal ein Eigenleben bekamen. So als wäre ein Geist in alle gefahren". Sie schlürfte den heißen Tee, tunkte den Kuchen hinein und sprach mit vollem Mund weiter:
"Das hört sich jetzt dramatischer an, als es ist. Es war nicht... benennbar, nicht auszusprechen....Zum Beispiel wohnte damals neben uns ein Bauer. Der hatte einen ganzen Garten voll Apfelbäume. Jeden Morgen im Spätsommer und Herbst ging er heraus und sammelte die Äpfel ein. Einen Teil verkaufte er, den größten Teil verfütterte er an seine Schweine. Er stand ganz früh auf, noch im Dunkeln, und fischte mit einer Harke auch die Äpfel auf, die auf unser Grundstück gefallen waren.
Manchmal waren wir schneller und konnten sie vorher einsammeln, aber meistens war er schon da gewesen. Wir waren immer hungrig damals. So waren die Zeiten eben. Aber der Bauer war halt, wie er war, und Mutter hatte gesagt, wir sollten nicht mit ihm streiten. Nur Jolanda....Jolanda sah das ganz anders. Ein anderer Nachbar hatte ihr nämlich gesagt, die Äpfel, die auf unser Grundstück fielen, seien rechtmäßig unser Eigentum. Das war ein gebildeter Mann und Jolanda sah den Bauern fortan als Dieb. Als jemanden, der ihr das Frühstück stahl. Ich sah das vielleicht auch so, ich weiß es nicht mehr, aber Jolanda war so... empört, so voller Zorn, dass sie dem Bauern wünschte, er solle in seiner Jauchegrube etrinken".
Wieder blickte sie auf die Uhr. "Der Mocca kocht uns über wenn wir nicht in die Küche gehen".

In der Küche setzten sie sich an den Tisch, der Mocca war noch nicht soweit.
"Das wäre alles ganz normal gewesen", fuhr Maria fort, während sie die Moccatassen aus dem Schrank holte, "wenn sich nicht einige Zeit darauf genau das zugetragen hätte. Der Bauer hatte eine tiefe Jauchegrube hinter dem Schweinestall. Dort stand die Gülle bestimmt zwei Meter hoch, wie lang die Grube war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war sie riesig und stank. Und in diesem Spätsommer gab es einen der typischen Wolkenbrüche, es goß wie aus Eimern. Kein Mensch, der nicht unbedingt mußte, ging aus dem Haus - nur Jolanda und er. Sie, weil sie vor ihm bei den Äpfeln sein wollte und er, weil er so geizig war".
Sie stellt die Zuckerdose auf den Tisch.
"Big Ben" begann zuerst und unmittelbar fielen alle anderen Uhren mit ein. Sechs Uhr. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, dem Klang nachzulauschen, fuhr Maria fort, sobald sich das Uhrengewitter ein wenig beruhigt hatte. Vom letzten Nachhall der "Zagreber Kathedrale" begleitet sagte sie:

"Nun, er war schneller. Es war noch dunkel aber er war vor ihr da und sie konnte grade noch schemenhaft sehen, wie er mit seinem Weidenkorb in Richtung Schweinestall abmarschierte. Völlig durchnässt kam sie ins Haus, zog sich aber nicht um, sondern stellte sich an den Ofen und starrte in die frisch entfachte Glut. Sie hatte einen ganz merkwürdigen Blick. Ich fragte sie, ob sie Tee wolle, aber sie gab keine Antwort. Mir war es egal, Jolanda war halt seltsam. Als sie die Schritte unserer Mutter auf der Treppe hörte, ging sie mit dem Gesicht noch näher ans Feuer. Dann ballte sie die Fäuste und zischte schnell: "In deiner Jauchegrube sollst du ertrinken, am Dreck deiner Schweine die unsere Äpfel fressen!" und rannte die Treppe hoch an Mutter vorbei, die schimpfte, weil Jolanda bis auf die Haut nass war vom Regen".

"Bleib sitzen". Der Mocca hob sich und Ysaj trat an den Herd. Maria lächelte und sagte: "Lass ihn sich zwei Mal heben".
"Ich weiß, Maria", lächelte Ysaj zurück. "Was ist dann passiert?"
"Danach? Der Bauer ist ertrunken. Es kamen solche Wassermassen vom Himmel, er ist in dem Schlamm ausgerutscht und in die Jauchgrube gefallen, die vom Regen sowieso schon übertrat. Das war eine Sauerei, sag ich Dir!" Sie lachte. Stand auf und legte Pistazien in ein Schälchen, das sie auf den Tisch stellte. Der Mocca war fertig und Ysaj schöpfte mit einem Löffel den Schaum ab, verteilte ihn gerecht auf die zwei Tassen, bevor sie eingoß.
"Eine Sauerei ohnegleichen!" lachte Maria und setzte sich wieder. "Das Gewitter war so laut, niemand hörte irgendetwas. Der Bauer wurde erst zwei Tage später in der Gülle gefunden, da schrien die Schweine schon vor Hunger. Aber Schweine sind ja sowieso empfindlich".
Sie nippten an dem Mocca; er war gut. Erstklassiger Arabica.
Maria legte ihre Hand auf Ysajs. Ihre Stimme wurde leiser.
"Es muss ungefähr eine Woche später gewesen sein, da wachte ich mitten in der Nacht auf und Jolanda saß an meinem Bett. Sie hatte wieder diesen seltsamen Blick.
Maria, sagte sie, ich hab den Bauern umgebracht. Ich war ganz erschrocken. Wie meinst du das, du hast ihn umgebracht? hab ich sie gefragt. Na, umgebracht. Ich hab ihm gewünscht er soll in der Gülle ertrinken und das ist er auch. Ertrunken in der Jauchegrube wie ichs ihm gewünscht hab!
So ein Unsinn! hab ich gesagt. Und dass es ein Unfall war und dass Gottes Wege unergründlich sind und all sowas. Aber Jolanda war fest davon überzeugt, sie habe den Bauern getötet. Es war ihr nicht auszureden. Schlimmer noch, sie hatte ganz arge Albträume, wachte heulend und schweißgebadet auf... und das noch lange Zeit nachdem der Bauer ersoff".
Sie machte eine kurze Pause, dann begann sie, die Pistazien zu schälen.
"Da war nichts zu machen, sie glaubte, dass sie an seinem Tod schuld war. Keiner sonst hat das geglaubt, das waren für uns alles Hirngespinnste aber niemand konnte sie vom Gegenteil überzeugen, nicht einmal Vater. Iß!"

Ysaj nahm die geschälten Pistazien und schob sie sich gedankenverloren in den Mund. Der Tod des Bauern in der Jauchgrube, umgeben von Donner und Regen, hatte etwas Düsteres. "Und damals begann es", murmelte Maria, erhob sich erneut und nahm Schnaps aus dem oberen Schrank. Mit dem Kopf wies sie hinter Ysaj, die verstand und zwei Pinnchen vom Regal nahm. Mit einer nahezu verschwörerischen Geste goß Maria den Sljivovic ein.
"Natürlich war das mit dem Bauern ein Unfall, ein unglücklicher, dummer Unfall. Aber ich will Dir etwas erzählen, woran du dann siehst, was ich meine".
Sie stießen an und nippten beide am Pflaumenschnaps.
"Einige Wochen später passierte Folgendes, es war beim Abendessen für die Brüder. Die beiden ältesten Brüder waren schon Teenager und arbeiteten ja schon und sie aßen später, wenn sie von der Arbeit kamen. Wir hatten nicht viel und Mutter war der Meinung, wer arbeitet und Geld heimbringt, soll ordentlich essen. Also bekamen Vater und die beiden älteren Brüder auch mal Wurst oder Fleisch. In der Woche davor hatten Verwandte auf dem Land geschlachtet und Würste geschickt. Mutter teilte die gut ein und die Männer hatten regelmäßig Wurst zum Abendbrot. An einem Abend, die Mutter war noch Brot holen gegangen, stellte sich Jolanda zu unserem Ältesten an den Tisch. Sie war fünf damals, ich weiß es, weil ich sieben war. Und sie sah ihm zu, wie er die Wurst aß, die er sich als Letzes aufgehoben hatte. Er ißt also die Wurst und sie schaut ihn von unten an, jeden Bissen hat sie verfolgt mit ihrem seltsamen Blick. Er aber, ganz abgebrüht, aß weiter. Ich wußte, er würde ihr nichts abgeben, ich hatte bei ihm auch schon mehrfach versucht, etwas abzustauben. Wie er aber das letzte Stück auf die Gabel spießt und essen will, zischt Jolanda ihn an: "Dass du an dem ersticken mögest!"
Der Bruder: "Was hast Du gesagt?!" Ich dachte, jetzt setzt es Ohrschellen und wollte Jolanda helfen. Da hat sie mich nur kurz angesehen und ich schwöre Dir ihre Augen! Das war ein ganz seltsames Grün. Auch der Bruder hat es gesehen. "Bleib, wo du bist!" sagt sie zu mir, dann dreht sie sich wieder zu ihm und faucht: "Die ganze Zeit sehe ich Dich an, dass mir ein kleines Stückchen nur abgibst. Jetzt kannst von mir aus am letzten ersticken!"
Maria kippte den restlichen Schnaps in einem Zug herunter. "Was soll ich sagen? Er gab es ihr. Nicht nur das Stück. Er gab ihr jedes Mal, wenn es Fleisch oder Wurst gab, die Hälfte. Der andere Bruder auch. Und sie hat es mit mir geteilt und den Kleinen. Verstehst Du?"
Sie goß sich nach.

Das Tick-Tack-Tack war verschwunden, Ysaj hörte die Uhren nicht mehr. Dafür meinte sie aber, das Meer zu hören oder das Rauschen von riesigen Wäldern. Eine weite, wohlige Wärme hatte sich in ihr ausgebreitet und die rührte nicht vom Schnaps, von dem sie nur kurz genippt hatte. Diese Wärme kam aus einem Raum hinter Marias blauer Iris, aus Marias gemeinsamer Zeit mit Jolanda. Sie hob ihr Gläschen und die beiden Frauen stießen an. Maria lachte hell und schlürfte vom Sljivovic.
"Es gehört sich für eine Dame nicht, zwei Pinnchen zu kippen", lächelte sie verschmitzt. "Komm, es wird Zeit! Wir nehmen den zweiten Mocca in der Stube. Da Jolanda nicht da ist, mußt heute Du statt meiner Schwester mir aus dem Kaffeesatz lesen". Sie hatten die Stube betreten und Maria nahm eine kleine Samtschachtel aus dem Schrank und gab sie Ysaj. "Und dafür bekommst Du das".
Als Ysaj die Schachtel öffnete, lag dort ein silberfarbener Kugelschreiber. "Schöner, moderner Kram", wie Maria sagte. Und im oberen Teil des Kugelschreibers blitzte ihr die LED-Anzeige einer kleinen, eingebauten Uhr entgegen. Natürlich. Sie lächelte. Einer Uhr.



Ulmenjahr

jelacic

Montag, 5. Dezember 2005

Voilá

Eine Frau, ein Wort

Sonntag, 4. Dezember 2005

Der Duft der kleinen Welt.

Das ganze Land wurde von Mythen und Geschichten zusammengehalten. Wenn die Gebrüder Grimm je den Balkan erreicht hätten, sie wären sich wie im Paradies vorgekommen. Das Philosophieren über die Geschichten war Tradition gewesen in den feinen Salons der Städte, man genoß nicht minder die Geschichten selbst über die hernach debattiert wurde; und sogar jeder einfache Landarbeiter trug wahre Kostbarkeiten mit sich herum, Erzählungen und Märchen säckeweise. Das hat sich in der Moderne nur langsam verändert. Fährst du aufs Land ruhen dort die Geschichten auf den sanften grünen Hügeln, plätschern mit den Bächen in verzauberte Landschaften, hocken auf Heuhaufen und laufen den Wachgänsen nach.

Als Jolanda noch sehr jung war, das war im ebenso jungen Tito-Jugoslawien, Jolanda musste inetwa 14 Jahre alt gewesen sein, bewarb sie sich für eine Ausbildungsstelle bei einem Bibliothekar. Ihre ältere Schwester besaß ein paar Schuhe und immer, wenn Jolanda eine offizielle Stelle aufsuchen musste, trug sie diese Schuhe, ansonsten lief sie barfuß. Jolanda wartete und wartete an diesem Tag, doch die leichtlebige Schwester kam nicht heim, war zu irgendeinem Rendezvouz gegangen und hatte Jolanda vergessen oder es war ihr einfach egal. Die Zeit wurde knapp und Jolanda, in einem ambivalenten Gemütszustand, einer Mischung aus Zorn auf die Schwester und Scham ob der fehlenden Schuhe, zog ihr bestes Kleid an, bestieg die Tramvaj und fuhr in die Stadt zum Vorstellungsgespräch.

In der Innenstadt lief sie zum Fernsprecher. Wie beim ersten Anruf meldete sich eine freundliche Frauenstimme und bestätigte ihren Termin in einer halben Stunde. So gern sie auch sonst durch die farbenfrohe Innenstadt mit ihren wunderbaren Düften schlenderte, setzte sich Jolanda an diesem Tag auf eine Bank und wartete. Die Passanten sahen auf ihre nackten Füße, manche schüttelten unwillig den Kopf, andere blickten ihr direkt in die Augen als suchten sie dort etwas Fremdes, ja Verruchtes. Trotzig erwiderte Jolanda den Blick, schob das Kinn vor und schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Der Minutenzeiger auf der großen Uhr, die über den Platz der Republik (heute: Jelacic-Platz) thronte, schleppte sich zäh voran.

Vielleicht war es dieses Warten oder etwas in Jolandas kindlichem Gemüt, das einen Anker suchte, eine Tür in diesem Wall aus Blicken. Als sie zwanzig Minuten später die Buchhandlung betrat geschah etwas mit ihr. Die großen Regale, bis an die Decke gefüllt mit Büchern, verbreiteten eine fast erotische Atmosphäre. Oben, auf der Galerie, standen die duftenden, alten Lederbände und waren das Schönste, das Jolanda in ihrem Leben gesehen hatte. Diese alten Bände standen in der Verkaufsabteilung, die einen Auszubildenden suchte. Als sie den Gang zwischen den Regalen zur Kasse schritt sah sie staunend nach links und rechts: immer nur noch mehr Bücher. Es mag sein, dass Jolanda sich an diesem Tag verliebte. In die Bücher. In den Duft der Ledereinbände, die sie später so bevorzugte. In die Atmosphäre. In ihr späteres Leben. In einen Teil ihres Selbst, der bis dahin nur zitternd und versteckt in ihr gewartet hatte auf einen Fluchtweg und ihn jetzt mit beiden Händen ergriff mit einer Intensität, die Jolanda haltlos überfiel, wie sie dort zwischen all diesen Büchern stand, offenen Mundes, und kaum begriff, wie ihr geschah, was ihr geschah.

Die Verkäuferin an der Kasse lächelte, es war die freundliche Stimme vom Telefon, die ihr den Weg ins Hinterzimmer wies. Nervös klopfte sie an und betrat nach einem sonoren "Herein!" den Raum. Der gutgekleidete Herr in mittleren Jahren erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor, seine Hand ausstreckend, um sie zu begrüßen. Er nahm ihre Hand in seine, schüttelte sie - und stutze.

"Junge Dame", sagte er daraufhin und wies auf ihre nackten Füße. "Ist das jetzt eine neue Mode?"
"Nein", erwiderte Jolanda beklommen und blickte ihn trotzig an.
"Warum erscheinen Sie dann barfuß? So läuft man nicht herum, Kind".
Seine Stimme war warm, auch wenn die Verwunderung aus ihr sprach. Jolanda zögerte. Sicher waren eine Menge Bewerber angemeldet, die hier standen oder noch stehen würden in Schuhen. Arbeit war knapp und begehrt in diesen Jahren. Sie sah die Tür zu dieser wunderbaren Welt sich wieder schließen, dachte an all die Bücher im Ladenraum und ihr Zorn auf die Schwester flammte erneut auf, heiß und bohrend. Maria, die von diesem Termin wusste. Maria, die nicht heimgekommen war und jetzt in den Schuhen herumstolzierte, die sie hätten retten können.
Und dann, in dem Strudel der Gefühle, die sie zu übermannen drohten, kam das alte Blut ihr zuhilfe und sie sagte gerade heraus:
"Nein, Onkel. Es ist keine neue Mode, es ist Zeugnis für Armut. Und derer muß man sich nicht schämen". Und erzählte ihm von Maria und den Schuhen.
Der Mann musterte ihr Gesicht. Lange. Dann lächelte er und griff zum Telefon.
"Frau Jadranic, würden Sie bitte kurz hereinkommen".
Er bot Jolanda einen Stuhl an und sie setzte sich in den ledergepolsterten Hafen vor seinem Schreibtisch, presste die zitternden Knie aneinander und sah ihm zu, wie er einige Papiere aus seinem Schreibtisch zog. Eine ältere Dame betrat den Raum, ihr Parfum roch nach Veilchen und gab dem Silber ihres Haares etwas Sanftes.
"Ah, Frau Jadranic", sagte der Buchhändler. "Bitte geben Sie unserer neuen Auszubildenden 50 Dinare, damit sie sich Schuhe kaufen kann. Und bitte hängen Sie ein Schild im Schaufenster aus, dass die Stelle vergeben ist".

Die Frau blickte auf Jolandas Füße, die diese unter dem Stuhl zu verstecken suchte, sagte aber nichts. Jolanda begriff zuerst nicht. Doch der Mann trat zu ihr, reichte ihr die Papiere und sagte: "Das hier bringen Sie bitte ausgefüllt wieder mit". Dann gab er ihr erneut die Hand und sagte zwinkernd: "Willkommen bei uns. Am Montag fangen Sie an und kommen Sie bitte mit Schuhen".
Er lachte und es war ein Geräusch wie Frühsommer, wenn die Bäume im Wind anders klingen, da sie Blüten tragen. Als sie hinter der älteren Dame zur Kasse schwebte, schienen die Bücher sie anzulächeln. Sie nahm die 50 Dinare, erhielt einen Rat, wo gute Schuhe zu kaufen seien und verließ, immer noch schwebend, die Buchhandlung.

Den Weg zum vier Straßen weiter gelegenen Schuhladen hüpfte sie unter weiteren Blicken, die ihr jetzt nichts mehr ausmachten. Im Laden gab man ihr unter verwundertem Tuscheln zwei paar Strümpfe, damit sie die Neuware anprobieren konnte. Und Jolanda probierte und probierte an, bis die Verkäuferin ungeduldig wurde und säuerlich das Gesicht verzog. Dann fiel Jolandas Blick auf ein Paar Schuhe, die damals modern wurden, beige, an Absatz, Ferse und Spitze mit schwarzem Leder abgesetzt. Schuhe, wie sie die Mutter schon immer haben wollte. Und wir wissen, was sie getan hat: Sie hat diese Schuhe gekauft. In der Größe ihrer Mutter, die irritierte Frage der Verkäuferin ignorierend: "Ja wollen Sie diese denn nicht anprobieren?"

War heimgefahren. Hatte allen gesagt, dass sie die Stelle bekommen hatte. Hatte zu Abend gegessen mit der riesigen Familie, den älteren Brüdern zugehört, wie sie über die Arbeit sprachen und sich dazugehörig gefühlt. Jetzt war sie kein Kind mehr. Hatte mit der Mutter abgewaschen und Mocca gekocht. Und als es stiller wurde im Haus, weil die Brüder ausgegangen waren und die Kleinen schon schliefen, der Mutter die Schuhe geschenkt. Die das alte Blut sie hatte kaufen lassen, ein Impuls, der so alt war, so alt und den die Anderen immer als verrückt bezeichnen würden, was Jolanda an diesem Abend lernen sollte.
Die Mutter, erst sprachlos und gerührt, ihre Mutter, die sich nie etwas von dem hatte anmerken lassen, was ihr dann dort in der Küche sozusagen herausrutschen sollte, zog die Schuhe an, stolzierte in ihnen vor dem Ofen auf und ab wie eine große Dame und Jolanda lachte und klatschte dabei in die Hände. Auch die Mutter lachte, drehte sich um sich selbst, hielt dann plötzlich inne, zog Jolanda aus dem Stuhl und drückte sie an die Brust. "Ach", sagte sie. "Ach, ach", und Jolanda spürte, wie aus dem Lachen ein Weinen wurde. Sie wollte sich lösen, um der Mutter ins Gesicht zu sehen, doch diese presste sie mit so wilder Kraft an sich, dass sie innehielt. "Ach", schluchzte die Mutter. "Von jedem Anderen hätte ich sie erwartet.... Deine Brüder arbeiten schon so lange .. und keiner von ihnen hat an mich gedacht.." Das Schluchzen ging in einen Weinkrampf über. Jolanda umarmte die weinende Frau fest, strich ihr über das Haar; die Zärtlichkeit dieses Augenblickes, die Tiefe der Empfindungen, trieb auch ihr die Tränen aus den Augen. "Es ist alles gut, Mama", flüsterte sie, aber die Mutter schüttelte stumm den Kopf, dicke Tränen tropften von ihren Wangen auf Jolandas Schulter.
"Ach", schluchzte die Mutter, "von jedem Anderen hätte ich sie erwartet. Und von Dir, die ich am wenigsten von allen geliebt habe, von Dir bekomme ich sie".

Jolanda hatte die Stelle im Buchladen behalten. Sie erschien am kommenden Montag barfuß und erzählte ihrem Vorgesetzten unter Tränen von dem Vorfall. Er schickte Frau Jadranic mit ihr neue Schuhe kaufen - mit dem lachenden Kommentar, man wisse ja nicht, wieviele Schwestern sie noch hätte.


Ulmenjahr


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Samstag, 3. Dezember 2005

Resumee

In der Küche beim Kaffee sitzen
und mit dem Fuß wippen.

Joker.

Was die Münzenzähler vergaßen:
Es giwnnt der, der nichts zu verlieren hat.

...



maut

Freitag, 2. Dezember 2005

Die Wahrheit und das Wahre VII

Gotovina ist ein Held.
Gotovina ist ein Mörder.
Gotovina ist ein nationaler Befreier.
Gotovina ist ein Kriegsverbrecher.
Gotovina ist ein Verteidiger.
Gotovina ist ein Henker.
Gotovina ist ein Mensch.

Donnerstag, 1. Dezember 2005

Die Wahrheit und das Wahre VI

Maulbeertaschen.
Holunderkuchen.
Nein, Maulbeertaschen!
Nee, Holunderkuchen!
Maulbeertaschen sind es!
Quark, Holunderkuchen...

Beim Kauen, der Zahn: Schlehen.

Die Wahrheit und das Wahre V

Es gibt Menschen, die sind sich selbst so feind
da plustert sich nur noch die leere Bedeutsamkeit
und sie prescht vor und richtet sich auch gegen die
die freund sind. Verbirgt sich in den Mäntelchen,
dort die Angst die Seele auffrisst.
Nur sich kennt.
Und wenn du nicht in ihrem Boot bist
in ihrer Welt
- noch hinein willst -
dann zeigt der Finger der blinden Behauptung
und die Scheiterhaufen werden errichtet
dann
kommen die Armeen.

Gold

Ein Mönch fragte: "Was wißt Ihr über den Herbst zu sagen, wenn die Bäume dürr werden und die Blätter fallen?"
Yün-men antwortete: "Jetzt zeigt der goldene Wind sein wahres Wesen".


[Verfasser unbekannt]

Montag, 28. November 2005

Schwester

Mit heulendem Sturm
teile ich sanft und leise
meine Einsamkeit


(November 2003)


Poems

Novemberschnee

Aus den Samhainhöhlen gekrochen
allerheilig, allerheilig
räume ich sie auf, die Stille
aus Lade auf Regalbrett
in den Schrank und zurück
und hocke mich beim Spaziergang
in der Dämmerung an den Ort wo
Fels und Himmel die Körper tauschen

So, plötzlich auf den Himmeln
hockend, den gewalttätigen,
die Ihres schon lange gesagt,
beobachten mich trockene Gräser
und flirrende Schneeflocken
wie ich dort sitze
mal Lady, mal Sand.



Poems


Spock-s-20Beard-20Snow


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