Sonntag, 27. November 2005

Die Wahrheit und das Wahre IV



1-Magier
Hermes Trismegistos und der Affe von Thoth

Jede Wahrheit ist wahr und unwahr zugleich.
Hinter dem großen Schleier sitzt der Affe und spuckt immer neue Wahrheit abwärts, da er dem Beherrscher von Mayan folgt.
Shht, Shht flüstert dieser. Doch der Affe spricht und spricht.
Shht, Shht flüstert Hermes und erschafft immer neue Welten.
Doch der Affe spricht und spricht. Darum gibt es keine Wahrheit von seinen Lippen.




Tee mit Choronzon

Samstag, 26. November 2005

Die Wahrheit und das Wahre III

Sie musste damals etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein und verbrachte den Sommer mit ihrem Vater an der Küste. Wie schön das Meer war. Wie sie jede Welle liebte. Und da sie nur einmal im Jahr dort war, entging ihr keine Veränderung. Frisch gestrichene Fensterläden, die letztes Jahr noch windgegerbt ihre ausgeblichenen Farbreste in den Hof blätterten, der neue rote Spaghettitopf der Nachbarin, ein neuer Spiegel am Auto des Onkels und der Hund von gegenüber, der plötzlich lahmte - alles Beobachtungen, die den Ansässigen schon wieder Gewohnheit waren, nicht mehr ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie zählte die Tomaten in Vaters Garten, die jedes Jahr üppiger wuchsen; sein Tempera auf Glas Bild, das er noch vor ihrer Geburt gemalt, hatte einen Sprung im Rahmen. Sie fragte den Vater, wie das passiet sei - er wusste es nicht mehr. Alles in allem waren es kleine Dinge, die sich in dieser mediterranen Welt veränderten. Diese Welt war ein Schiff auf See, das außerhalb der Zeit die Meere befuhr und doch so gar nichts Geisterhaftes an sich hatte; unter der gleißenden Sonne des Südens lag sie weit sichtbar und oft besucht von Freunden, Nachbarn und Verwandten. Im Mohnkuchen, seit Generationen auf die gleiche Weise gebacken, lag Sicherheit, sein von der Meeresluft getränkter Geschmack war Heimat. Die Einen kochten auf Öl, die Anderen, aus dem fruchtbaren, bäuerlichen Flachland zugezogen, auf Fett - so nannte man es. Weil sie alles in Tierfett bruten, ja sogar die Gemüsesuppe setzten sie darauf an. Nur beim Kuchen waren sich alle einig über die Butter. Und somit war auch das geklärt und man zelebrierte das friedliche Miteinander mit Kuchen, um den Gaumen des Anderen nicht mit Andersartigkeit zu beunruhigen. Das zeitlose Schiff fuhr gemächlich, die Uhren tickten langsamer dort, sagte man. Muscheln gab es und Feigen und so süsse Tomaten, dass man sie wie Äpfel aß.
Ihr fiel auf, dass die greise, nach 17 Jahren noch schwarzgekleidete Witwe jetzt auch Flaschentomaten hatte. Im letzten Sommer waren in ihrem Garten nur Fleischtomaten gestanden. Ihre Tochter trug jetzt kräftige Farben auf den Fingernägeln, das war früher nicht so. Und der arbeitslose Tagelöhner, der etwas außerhalb wohnte, trank nicht mehr.

Als ihre Mutter, die sie sechs Wochen zuvor noch gesehen hatte, sie abholte, wirkte diese erholt und ausgelassen. Auch ihr Sommer war schön, wenngleich arbeitsreich gewesen.
"Schau mal", sagte sie, mütterlich lächelnd, "ich war bei der Pediküre".
"Was ist eine Pediküre, Mama?"
"Das ist eine Maniküre an den Füßen", lachte die Mutter und streckte ihren riemchenbeschuhten Fuß vor. "Und?" fragte sie. "Wie sieht es aus?"
"Schön" antwortete sie, weil der Mutter Fuß wirkich schön war. Schon immer.
Aber sie sah nicht, was die Maniküre für die Füße gemacht haben sollte.
Sie sah keinen Unterschied.




[painting by Rade Kačarević, oil on canvas]

starigrad

Die Wahrheit und das Wahre II

Es gibt zwei Sorten von Lügnern.
Die erste Sorte weiß, dass sie lügt und glaubt den (anderen) Menschen.
Die zweite Sorte verdrängt, dass sie lügt und hält alle anderen für Lügner.
Erstere sind mir lieber.

Freitag, 25. November 2005

Die Wahrheit und das Wahre I

wird inspirativ gerade hier diskutiert.


Schmetterlingsclan

Mittwoch, 23. November 2005

Lebendige Figuren

Spannende und lebendige Charaktere in jedweder Erzählung erhalten Leben erst durch vom Autor projizierte Emotion. Dieser Akt der Projektion ist nicht: Auf eine Fläche projizieren, sondern die Emotion in die Figur entlassen, gleichermaßen auch aus sich selbst (temporär) zu lösen bis hin zum Entfernen. Also: Einer literarischen Figur die Emotion geben/übertragen, nimmt sie einem selbst in dem Moment.
Somit ist literarischem Schaffen ein multiples Spiel von Geist und Emotionen inhärent, gleichermaßen AkteurIn und RegisseurIn, FühlendeR und DirigentIn.
Die Summe, im Inneren in multipler Weise und Ebene ausgeführt, begibt sich im Schreiben dann in die (körperliche)Form.
Nachtrag: Und tritt dem Leser so als Eigenständiges entgegen.


Poetologie

Dienstag, 22. November 2005

Rosen lachen

Das, was den Stein höhlt, gibt der Blume Leben.


[Inspiriert >>>>>via]

Hochnebel

Hochgeschlagener Mantelkragen
riecht noch nach Zimt vom Vorjahr
und die kleinen Weihnachtskobolde
von 2004 reiben sich die Augen flüstern
aus der Wolle in den Atem:
Wo sind wir?


Poems

Montag, 21. November 2005

Der Sohn der Witwe

Sie sehen dir zu wie du die letzen Brotkrumen zusammensuchst.
Dann drehen sie sich um und sagen: Ich rufe dich an.

Sonntag, 20. November 2005

Hinter der Welle

Wenn ich mich so lese
frage ich mich
wer das alles geschrieben hat

04-binary-wave

Auf ausdrücklichen Wunsch



Bild001


Bild002
19.November 2005


Gott und Fiktion

Aktuell diskutiertes Thema auf Hanging Lydia; zudem eines, dem ich mich verbunden fühle.

Hanging Lydia
Gott ist Wort und ich bin Dichter.
Stigma
Gott ist Dichtung und ich bin das Wort.

Bura II

Über das ganze Bett verstreut und mittendrin saß sie, das Haar wirr, die Wimperntusche hatte dunkle Linien auf ihren Wangen hinterlassen.
Sie begann, die Briefe zu zerreißen; nicht wild, sondern ein Blatt nach dem anderen riß zwischen ihren Fingern; fast säuberlich ging sie zu Werke, verlängerte das, was noch übrig war, zögerte es hinaus in einem Taumel aus blinder Enttäuschung.
"Warum tust Du das?" flüsterte es von irgendwo her, aus ihrem Innern, aus einer anderen Zeit, als sie dieser Stimme noch traute.
Sie antwortete nicht, hielt nicht inne. Brief für Brief ging in Fetzen, von ihren frischen Tränen zerlaufene Sätze wurden in der Mitte zerrissen. Hier würde sie es konservieren, das Übriggebliebene, das ehemals Gute, den Rest des Glücks. Jeder weitere Schritt bedeutete den Abgrund, in dem er nicht anders war als alle anderen; und darum würde sie genau hier, auf den Klippen der Ernüchterung, ein Denkmal errichten aus Tränen, zerrissenen Briefen und Dämmerung.


[Notat zur Erzählung "Dämmerung"]



Arbeitsnotate

Michele

Michele aber sagte dort Schwarz, wo die Zeitungen immer Weiß gesagt hatten; und es gab für ihn nichts in diesen zwanzig Jahren, was gut gewesen wäre; vielmehr war seiner Meinung nach alles falsch, was seit zwanzig Jahren in Italien getan worden war. Mussolini, seine Minister, alle wichtigen Persönlichkeiten des Regimes und überhaupt alle, die irgend etwas zählten, waren für ihn Banditen. Er sagte wirklich und wahrhaftig "Banditen", und mir blieb der Mund offenstehen, wenn ich ihn dererlei Dinge so selbstsicher, so ruhig und so sorglos behaupten hörte.

Mir war immer gesagt worden, Mussolini sei zumindest ein Genie; seine Minister seien, gering gesagt, große Männer; die Gauleiter seien, ganz bescheiden ausgedrückt, hochintelligente, anständige Menschen; und auch auf alle die kleineren Funktionäre könne man sich mit geschlossenen Augen verlassen. Michele aber wendete sozusagen unter meinen Augen den Pfannekuchen um und erklärte alle diese Leute für Banditen.



[Cesira, Alberto Moravia]


Texte

gütig
















grausam
















Hekate. Mitternachtspoetik

Inmitten der Kohärenz
meiner Gesichter kann ich
das eine Antlitz nicht
behüten das sich entfernt


moment47

Samstag, 19. November 2005

Hekate. Morgenpoetik

Da setzte Amor einen entscheidenden Streich
gleich einer lebendigen Klinge aus dem Hinterhalt:

Ich stand in der Küche
vor dem zweiten Kakao des Morgens
als das Bimmeln des Messengers ertönte
und mir wurde ganz plötzlich klar
wie ich da so stand und in
meiner Tasse rührte
wie einsam ich war
bevor ich Dich traf

Erster Frost



Er, am Telefon: Heute Nacht hat es gefroren hier, die Bäume sind weiß
Ich: Betupft.....
Er: Ich habe ein gefrorenes Spinnennetz vor einem Fenster
Ich: Oh wie schön! Machst Du ein Foto davon?



Spinnennetz1


Verlassene Heimstatt vor dem Fenster des Geliebten.



[Dank für die Fotos an Exkurs]


Spinnenetz2

Vom Stamme Lucifers

Die Welt ist ein Herz
Dort nichts tiefer geschieht
denn Tränen
Ich sitze auf meinem Stuhl
bis ich versinke
im Sekundenzeiger, im Meer
und über den Stuhl gelehnt
suche ich nach meinem Kleid
nach den Farben des Apfels
so süss und zart und bedeutend
Im Handteller eine rote Spur
aus löwischem Riss
in die Unbeweglichkeit des Himmels
und faunisch, dunkel
festgehalten und bezeugt
im Familienalbum


Poems


LUCIFER21

Freitag, 18. November 2005

La rose triste. Und andere Passionen



entre nous


Ruhiger Finger
schnürt zart mich, ganz behutsam
in mich selbst


Wider die eigene Sache.

Jeden Tag Kuchen

Während der Phasen der Sammlung, der Stille, des "Ausholens aus dem Nichts" der östlichen Kalligraphen, die den Weg vorbereiten für das, was sich schreiben will durch Hand und Tastatur, stören sie mich massiv. Sie stören überhaupt nur in diesen Perioden der Konzentration und der Geduld: Die Seichten.
Der Ton locker, die Clownsnase für den Leser immer in der Tasche, füllen sie Seiten und Bände mit dem seichten Plätscherfluss einer Plapperkunst, die auf Breitbandohren trifft wie auf das sprichwörtliche Scheunentor. Das ist hip, dazu kann jedeR etwas sagen; es erfordert keinerlei großes Nachdenken, durch ihre Schrift(en) zu segeln und das prima Gefühl zu haben, an etwas wirklich Außergewöhnlichem teilzuhaben, während man es tatsächlich nur mit blendend verpacktem Mittelmaß zu tun hat. Aber wie es glänzt! So sehr, dass die geneigte Leserschaft nicht einmal auf den Gedanken kommt, das flitternde Geschenkpapier aufzureißen, den Inhalt zu untersuchen: Das, was bleibt, wen der Tand entfernt wird. Enem, ich habe nichts gegen leichte Kost, leichte Muse und sanft plätschernde Erzählweise. Der Alltag selbst gebiert die großen literarischen Bilder in den Händen der Mutigen. Mich stören die Seichten in persona.
Sie halten sich für begnadet, sie blähen sich auf, verweisen auf ihre Verkaufs- und/oder Leserzahlen - was in einem Land, in dem die meistverkaufte Zeitung der Yellow-Press angehört und Nobelpreisträger Verkaufszahlen haben wie andernorts Lokalpoeten, nun wirklich absurd ist. So mogeln sie sich in gewisse Positionen, nennen sich Superblogger (neu!), Journalisten, Essayisten, Schriftsteller und, die Götter seien uns gnädig, Dichter.

Wann immer mensch auch in ihrer erschriebenen Welt auftaucht: Es ist immer gerade eine Party. Immer tummelt es sich an Fans und anderen Leuten - und sie alle sind wichtig - man sonnt sich im Glanz des Packpapiers, kommentiert im glücklichen Falle Substanz in die flachen Bäche des Gastgebers. Es gibt jeden Tag Kuchen. Man reiht die Worte aneinander und verziert sie dann wie ein Konditorgeselle eine Übungstorte, bepinselt die Pappe mit Zuckerguß und falschen Rosen. Wie ich auf Rosen komme? Nun: Rosen hätten Dornen.


Brot und Spiele

"Comedy ist im Aufschwung". Ja. Wissen Sie, mir wäre es lieber, das Lachen selbst wäre "im Aufschwung". Die Überflutung des Landes mit Comedy hat den seichten Ton erst salonfähig gemacht. Heute ist jeder, der lachen kann, jeder, der sich mit seinem Halbwissen willkommen fühlt in der Riege der scheinbaren Literaten, natürlich ebenfalls ein Dichter. Wann wurde jemals in der Geschichte der Menschheit so viel Unsinn zwischen Buchdeckel gebracht?
Und wäre es nur der Unsinn, ich wäre froh und dem Gekicher zugetan. Aber die Eitelkeit vergiftet es, der Kuchen ist in Wahrheit bitter und ungenießbar. Schneiden Sie ihn an und schauen Sie selbst: Das Konstrukt fällt in sich zusammen und offenbart die gähnende Leere einer Atrappe. In Zeiten, die gekennzeichnet sind von sozialen Unruhen, radikal zunehmender Armut und abnehmender Bildung: von großer Existenzangst einer wachsenden Bevölkerungsgruppe ist es einfach nicht in, kritisch zu sein. Man liefert keinen Tiefgang, der die Menschen aufschrecken könnte, noch schaut man hin, was die Zeitqualität uns wirklich beschert. Solange man nicht zu denenen gehört, die das Schicksal hart trifft, lehnt man sich träge zurück und serviert sprachliche Sahnetörtchen - die bekanntlich in diesen Massen dick und noch träger machen. Ohne einen einzigen Gedanken an Inhalte zu verschwenden leisten sie der erneuten Feudalisierung der Welt madenspeckigen Vorschub. Und wenn sie doch einmal bedrängt sind vom Reiz, etwas Substantielles zu schreiben, werden sie von der kuchenfett genährten Eitelkeit zurückgehalten: Der Leser könnte sie weniger mögen. Eine Katastrophe.


Dichtung

Der Büchnerpreis. Damals: Wie lebendig, die Vitalität des Schöpferischen - und heute: Eine Totenwache.
Es gibt keineN SchriftstellerIn in diesem Land mehr, der/die den Mut hat, zu polarisieren. Somit: Diskussionen und Kontroversen anzuregen. Oder schlicht: Das Nachdenken wieder populär zu machen. Der Narzissmus siegt auf ganzer Linie. Sie schreiben wider das Schreiben.
Ja, ich esse auch Kuchen - aber man verschone mich bitte mit täglichen Portionen. Geben Sie mir lieber eine ehrliche Kohlsuppe statt des hochgelobten Sahnegeschwätzes. Und falls Sie jetzt ein wenig Appetit verspüren auf würzige Delikatessen, den Gesang einer Sinfonie aus den Tiefen, dann kosten Sie einmal >>> hier.


[Hätte der Geist von Homer, Vergil, Al-Maary und Milton gewußt, dass die Dichtung zum Schoßhund der Reichen verkommen würde, er hätte eine Welt, in der sich solches ereignen könnte, verlassen.
Es betrübt mich, die Sprache des Geistes zu hören, wenn sie von den Zungen Unwissender dahergeschwätzt wird. Es schmerzt meine Seele, wenn sie sieht, wie der Wein der Musen über die Federkiele von Angebern fliesst.
Man findet mich hier aber nicht allein im Tale des Unwillens. Ich bin nur einer von vielen, die sehen, wie der Frosch sich aufbläht, um den Stier nachzuahmen.


Khalil Gibran]



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