Blut und Sprache. Variation IX
Sie [edit: die immer gleichbleibende Szene] tritt uns auf einer attischen Schale aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges entgegen, die sich heute im Corpus Christi College in Cambridge befindet. Drei Figuren sind zu sehen: links, auf dem Felsen sitzend, ein Jüngling, der auf eine Tafel schreibt, einem diptychon das nicht viel anders als ein Laptop aussieht; weiter unten ein abgeschnittenes Haupt, das den schreibenden Jüngling betrachtet; rechts Apollo, der, stehend, mit einer Hand einen Lorbeer umfaßt, während er den rechten Arm zu dem schreibenden Jüngling hin ausstreckt.
Was geht da vor? Den häufigsten Darstellungen zufolge hat eine Mänade Orpheus die Kehle durchgeschnitten: Sie hielt ihn von hinten an den Haaren gepackt, während sie ihm das Schwert in den Hals senkte. Um sich zu verteidigen, schwang der Dichter die Lyra wie eine Waffe. Und er sang, aber die vis carminum konnte nur für kurze Zeit die Steine, die andere Mänaden nach ihm warfen, in der Luft aufhalten. Dann übertönte der Angriffslärm seine Stimme, so dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Oprheus´ Haupt wurde mit einer Sichel abgeschnitten und in den Ebros geworfen, auf dem es davonschwamm. Er sang und blutete. Es blieb frisch, blühend. Vom Fluß gelangte es zum Meer. Es trieb lang durch die Ägäis, bis es an den Strand von Lesbos getragen wurde. Dort hat sich die abgebildete Szene vermutlich zugetragen. Es ist die Urszene der Literatur, bestehend aus ihren Grundelementen.
[Roberto Calasso, "Die Literatur und die Götter"]
Was geht da vor? Den häufigsten Darstellungen zufolge hat eine Mänade Orpheus die Kehle durchgeschnitten: Sie hielt ihn von hinten an den Haaren gepackt, während sie ihm das Schwert in den Hals senkte. Um sich zu verteidigen, schwang der Dichter die Lyra wie eine Waffe. Und er sang, aber die vis carminum konnte nur für kurze Zeit die Steine, die andere Mänaden nach ihm warfen, in der Luft aufhalten. Dann übertönte der Angriffslärm seine Stimme, so dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Oprheus´ Haupt wurde mit einer Sichel abgeschnitten und in den Ebros geworfen, auf dem es davonschwamm. Er sang und blutete. Es blieb frisch, blühend. Vom Fluß gelangte es zum Meer. Es trieb lang durch die Ägäis, bis es an den Strand von Lesbos getragen wurde. Dort hat sich die abgebildete Szene vermutlich zugetragen. Es ist die Urszene der Literatur, bestehend aus ihren Grundelementen.
[Roberto Calasso, "Die Literatur und die Götter"]
TheSource - 5. Aug, 20:27
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